Geboren am 15. Juli 1946 in Vilnius, Litauen; Kuratorin und Jiddisch-Lehrerin
Vor dem schmalen Gedenkstein mit dem eingemeißelten Davidstern könnten wir Roza Bieliauskienė gar nicht verfehlen, da verirre sich fast nie jemand hin – so hatte man uns den Treffpunkt im „Jewish Culture and Information Center“ beschrieben. Und richtig: Am nächsten Tag steht da pünktlich um elf eine ältere Dame kaum größer als der unauffällige Stein und lächelt über das ganze Gesicht, als sie uns sieht. Das Lächeln verschwindet auch in den folgenden Stunden nie ganz, obwohl sie uns die schrecklichsten Dinge erzählt, während sie ihr Vilnius zeigt. Ihr Vilnius – das ist nicht die lebendige Stadt, in der Pärchen knutschend auf Rasenflächen der Altstadt liegen, in der die Geschäftsleute mittags kalte Rote-Beete-Suppe schlürfen und Besucher prächtige barocke Gebäude fotografieren. Ihr Vilnius gehört der Vergangenheit an, als es als „Jerusalem des Nordens“ das bedeutendste jüdische Zentrum Osteuropas war. Ihr Vilnius besteht aus Erinnerungen ihrer Eltern, historischen Fakten und Bildern ihrer Kindheit, die in den Ruinen des zweiten Weltkriegs begann. Festen Schrittes geht sie quer über einen Grünstreifen die ehemalige Hauptstraße des jüdischen Viertels entlang, zeigt in Hinterhöfen die Spuren jüdischen Lebens und lässt so eine Stadt entstehen, die es heute nicht mehr gibt.
„Meine Mutter und mein Vater waren beide ganz allein,
als sie nach dem Krieg aus den Tiefen der Sowjetunion zurückkehrten. Sie hatten sich dort versteckt. Als sie wieder daheim in Litauen waren, fanden sie niemanden mehr aus ihren Familien. In dieser Zeit haben sie sich getroffen, haben geheiratet und sind in die Rudininku Straße Nummer 16 gezogen, wo während der Besetzung durch die Nazis der Haupteingang ins Große Ghetto war. Als Kind habe ich dort mit meinen Freunden in den Ruinen gespielt, obwohl wir das nicht durften. Manchmal ist ein Kind gestorben, wenn ein Blindgänger hochging. Die Generation meiner Eltern hat versucht, uns nicht so genau zu erzählen, was mit unseren Großeltern, Onkeln, Tanten, Cousinen und Cousins passiert ist – warum wir keine Verwandten hatten. Trotzdem wusste ich von klein auf, dass hier viele Menschen ermordet wurden, weil sie Juden waren. Meine Familie war nicht religiös, aber wir haben jiddisch gesprochen und die jüdischen Traditionen gepflegt. Das war schwierig, denn 1949 sind in Litauen alle jüdischen Institutionen durch die Sowjetunion geschlossen worden – das Jüdische Museum, die Jüdische Schule und der Jüdische Kindergarten. Anfang der 60er, nachdem Stalin ein paar Jahre tot war, konnte mein Vater endlich seine Schwester und seinen Bruder suchen, die zu Beginn des Krieges in die USA emigriert waren. Seine Schwester hat er tatsächlich gefunden. Das war ein riesiges Fest bei uns zuhause.“
„Auf der ganzen Welt kann man noch Menschen treffen,
die im Jüdischen Krankenhaus in Vilnius geboren worden sind. Wenn ich in dem Haus stehe, in dem jetzt Leute wohnen, muss ich immer daran denken, wie ich die Geburtsurkunde meiner Freundin Rita Gurvitz-Milhtaih aus Israel gefunden habe. Die ausgetretenen Holzstufen erinnern mich an das alte Vilnius. Damals war Holz am günstigsten, heute gibt es mehr Geld und das Holz verschwindet aus den Häusern. Es berührt mich jedes Mal, wenn ich diese kleinen Details sehe: ein paar alte Ziegeln in einem der typischen kleinen Innenhöfe, ein vergessener Holzverschlag, die verblassten jiddischen Inschriften am Haus gegenüber. Die meisten Menschen nehmen die wenigen Überbleibsel aus der Zeit, in der Vilnius das Jerusalem des Nordens war, nicht wahr. Doch ich finde, dass unsere kleine jüdische Gemeinde dieses kulturelle Erbe hochhalten muss – es gehört zur europäischen Geschichte. Wenn ich an die jüdischen Ärzte denke, die hier über die Stufen gegangen sind… Das waren nicht nur Ärzte, die sich um ihre kranken Patienten gekümmert haben, sondern öffentliche Personen! Sie hatten eine Führungsrolle in der jüdischen Gemeinde. Das Krankenhaus ist damals schnell gewachsen und war vor dem zweiten Weltkrieg unter allen Einwohnern der Stadt beliebt. Als die Nazis Vilnius besetzt haben, lag es mitten im großen Ghetto. Es war die einzige jüdische Einrichtung, die weiter am Laufen gehalten wurde, alle anderen Institutionen mussten schließen. Doch die Ärzte haben alles möglich gemacht, um zu helfen – und die im Ghetto gefangenen Menschen vor der Liquidation zu beschützen.“
„Manchmal ist mir, als hörte ich Jiddisch,
wenn ich diese alten Wege rund um die ehemalige Große Synagoge entlanggehe. Ich sehe die Gesichter meiner Schulfreunde vor mir, die Gesichter unserer Nachbarn, die meiner Eltern. Doch die Straßen sind größer geworden und die Erinnerungen kleiner. Vilnius ist im Krieg zur Hälfte zerstört worden. Viele Plätze wurden danach weitläufiger. Es kommt mir oft vor, als starrten mich die Löcher an, die dadurch entstanden sind. Die Nazis haben die Synagoge zerstört und die Sowjets haben sie endgültig abgerissen. Dieser Ort ist für mich der Friedhof des geistigen Lebens, das im litauischen Jerusalem einmal so lebendig war. Nach der Schule bin ich ans Polytechnische Institut Kaunas gegangen und habe mich auf Elektrizität spezialisiert. Mein Mann und ich haben an einem wissenschaftlichen Institut für Fotokopie gearbeitet. Doch ich habe mich mein ganzes Leben für jüdische Geschichte, Kunst und Kultur interessiert. In der Sowjetunion gab es keine Möglichkeiten, sich da weiterzubilden, nach 1989 erschien dann mehr und mehr Literatur. Schritt für Schritt habe ich dazugelernt. 1990 wurde ich dann vom wiedereröffneten Jüdischen Museum eingeladen, eine Sammlung zusammenzustellen. Dadurch habe ich sehr plötzlich meinen Beruf gewechselt und 17 Jahre lang als Kuratorin gearbeitet. Ich habe mich auch dafür eingesetzt, dass es an der Uni wieder Jiddischkurse gibt und selbst unterrichtet. Jiddisch ist nicht nur eine Sprache. Jiddisch ist die Basis für die reiche Kultur der Juden in Europa. Die Diaspora wurde größer und größer – und jedes Volk hat die europäischen Juden, ihre Sprache und Kultur beeinflusst. Natürlich haben auch die Juden die europäische Wirtschaft und Kultur beeinflusst. Trotz der sechs Millionen Holocaust-Opfer, trotz des Genozids durch die sowjetische Regierung: Es ist sehr viel historische Literatur erhalten geblieben, die der Öffentlichkeit bekannt sein muss. Ich gehe davon aus, dass die jüdische Kultur in Europa in Zukunft weitestgehend ohne Juden aufrechterhalten wird. Für mich ist es dennoch wichtig, dass sie am Leben bleibt.“