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Geboren am 28. Juni 1990 in Puteru bei Dundaga, Lettland; Übersetzerin

 

Marta Ratkeviča ist eine Überraschung. Erstens ist sie jung. Und junge Menschen sieht man kaum, wenn man an der Ostseeküste von Ventspils aus hoch zum Nationalpark Slitere fährt. Was man sieht, sind kleine alte Frauen, kleine alte Männer und verlassene Holzhäuser, in denen gemusterte Tapeten von den Wänden herunterwelken. Zweitens sind Marta Ratkevičas Haare rostrot wie die Wände des Leuchtturms, in dem sie arbeitet. Ein Farbtupfer in einer Landschaft, die durch Wälder, Dünen und Meer vor allem grün-weiß-blau ist. Grün-weiß-blau wie die Flagge der Liven – die Ureinwohner Lettlands, von denen heute nur noch wenige Nachkommen in den Fischerdörfern im Nationalpark leben. Es ist nicht viel los an diesem Tag im Juni. Während sich draußen Bäume und Kornfelder im Sonnenlicht wiegen, sitzt Marta Ratkeviča drinnen im Leuchtturm hinter einem Holzfenster an ihrem Laptop. Von ihrem Desktop blickt ihr ein knapp bekleideter David Beckham entgegen. Sie versucht gar nicht erst ihn wegzuklicken als wir reinkommen, sondern lacht ein ansteckendes Grübchenlachen.

 


 

„Meine Freunde nennen mich treehugger,

obwohl ich gar keine Bäume umarme. Ich bin keine Greenpeace-Aktivistin oder so. Aber es stimmt schon: Ich liebe den Wald und bin mittendrin aufgewachsen. Da waren nur wir: meine Eltern, meine beiden älteren Brüder und ich. Der nächste Nachbar wohnte sechs Kilometer weit weg. Wenn ich das erzähle, stellen sich die meisten Leute eine Holzhütte ohne Wasser und Strom vor. Doch unser Haus ist groß und weiß, mit allem was man braucht, auch Internet. Meine Mutter arbeitet im Slitere Nationalpark, mein ältester Bruder ist Landschaftsarchitekt und mein anderer Bruder und mein Vater sind Forstwissenschaftler.

Ich habe letzte Woche meinen Bachelor gemacht und bin nun offiziell Übersetzerin und Dolmetscherin. Dass ich fließend Englisch spreche, ist auch für meinen Nebenjob im Nationalpark praktisch. Seit vier Jahren arbeite ich während der Saison hier in dem stillgelegten Leuchtturm von 1849, von dem aus man einen tollen Blick über Wald und Wiesen hat. Ich drücke den Leuten das Fernglas in die Hand, lasse sie auf den Turm oder führe sie herum und erzähle ihnen etwas über den Park.

Es kommen vor allem Letten. Aber auch viele Deutsche. Einmal war jemand aus Australien da, aber die meisten Besucher sind schon Europäer. Ich mag es, mit ihnen zu sprechen, schließlich sehe ich ja sonst nicht so viele Menschen. Ich erkenne immer sofort, ob sie Letten sind oder nicht, an ihren Gesichtern und an ihrem Verhalten. Lettische Russen sind zum Beispiel extrovertierter als Letten. Eine Gruppe russischer Kinder ruhig zu kriegen, ist echt schwierig. Das ist wie eine Explosion, wenn die hier auftauchen. Wir Letten sind ruhiger und introvertierter, würde ich sagen, wir rennen nicht ständig durch die Gegend. Noch langsamer sind allerdings die Esten. Zumindest behaupten wir gern, dass sie eine extrem lange Leitung haben und Witze nicht kapieren. Wenn ich mir unsere ökonomischen Probleme anschaue, befürchte ich allerdings, dass die Esten es mit ihrer Langsamkeit deutlich weiterbringen als wir.“

 

Besuch bei Marta Ratkeviča im Leuchtturm I: Heimat

 

„Unser wichtigstes Exportgut ist grünes Gold.

Deswegen schlagen sie in unseren Wäldern wie die Verrückten Holz – ohne an die Konsequenzen zu denken. Dieser Nationalpark ist eines der wenigen Gebiete, in denen es keine Kahlschläge gibt. Das macht mir große Sorgen. Ich glaube einfach nicht, dass das der einzige Weg ist, um aus der wirtschaftlichen Krise rauszukommen. Zum Glück gibt es Regeln von der EU, die es etwas schwieriger machen, wild drauflos zu fällen. Mithilfe von EU-Geldern können wir dieses Jahr auch endlich den Naturpfad hinter dem Leuchtturm reparieren. Ich kann also eigentlich nicht so viel Schlechtes an der EU finden. Mich stört nur, dass es immer so sehr ums Wirtschaftliche geht. Die Idee einer gemeinsamen Währung nur aus ökonomischen Gründen gefällt mir überhaupt nicht. Für mich ist das lettische Geld ein Teil unserer Identität. Der Storch, der Fisch oder der Baum auf der 1-Lats-Münze zum Beispiel – die gehören einfach zu uns.“

 



 

Besuch bei Marta Ratkeviča im Leuchtturm II: Familie

 

„Mein Freund ist Ornithologe

und arbeitet auch hier im Nationalpark. Wegen ihm kam ich darauf, in meiner Bachelorarbeit lettische und englische Vogelnamen zu vergleichen. Die beziehen sich nämlich oft auf ganz unterschiedliche Eigenschaften der Vögel. Wenn man sie direkt übersetzt, spricht man auf einmal von einer ganz anderen Art, was zu Missverständnissen führen kann. Außerdem habe ich die Etymologie der Vogelnamen untersucht. Da gibt es in Lettland bisher kaum Forschung zu. Deswegen würde ich gern dranbleiben an dem Thema und vielleicht in Richtung Linguistik gehen. Einen Master in Übersetzen und Dolmetschen kann ich mir nicht vorstellen. Das Programm, das sie dafür in Ventspils anbieten, finde ich langweilig. Dass ich mich damals für den Bachelor dort entschieden habe, hing auch damit zusammen, dass ich von Ventspils aus jedes Wochenende nach Hause fahren konnte. Ich mag einfach keine Städte. In Riga könnte ich nie leben. Zu viele Leute und viel zu viele Autos. Als ich noch keinen Führerschein hatte, hat es mich manchmal genervt, dass ich so weit draußen gewohnt habe. Jetzt möchte ich auf keinen Fall mehr weg. Klar wäre es spannend, mal ein Jahr ins Ausland zu gehen. Aber meine Familie zurücklassen? Das würde ganz schön viel Mut kosten.

Viele in meinem Alter gehen dauerhaft aus Lettland weg. Ich finde das traurig und verstehe es auch nicht so richtig. Man findet hier locker einen Job, wenn man ein bisschen sucht. Aber viele denken, woanders könne man mehr Geld verdienen. Nur, wenn man zum Beispiel in Norwegen wohnt, muss man doch auch viel mehr ausgeben, da ist doch alles viel teurer. Was gewinnt man dadurch? Eigentlich habe ich ja die Hoffnung, dass für meine Generation materielle Sachen nicht mehr so wichtig sind wie für die Älteren. Man merkt schon sehr, dass sie in einem anderen System aufgewachsen sind. Es nervt mich, dass sie oft fast melancholisch zurückgucken. Ich weiß nicht, woran das liegt. Vielleicht, weil sie damals nicht so viele Möglichkeiten hatten und es genießen konnten, wenn sie mal etwas Neues bekamen. Jetzt können sie alles haben, was sie wollen und wissen es nicht mehr zu schätzen. Es muss immer von allem noch mehr sein! Ich habe das Gefühl, dass die Leute sich Dinge anschaffen, nur um zu zeigen, dass sie es können. Mir ist Besitz nicht so wichtig. Ich würde später allerdings schon gern in einem eigenen Haus mit ein bisschen Land drumrum wohnen. Jetzt ziehe ich aber erst mal mit meinem Freund ins Verwaltungsgebäude des Nationalparks. Komische Vorstellung, da in einer Wohnung zu wohnen. Ich bin das gar nicht gewöhnt, dass Leute über meinem Kopf herumtrampeln und ich nicht rumspringen kann, wie ich will.“

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