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Geboren am 03.09.1950 in Lissabon; Rheumatologe

Noch bevor wir im Flugzeug von Hamburg nach Lissabon die Sitzgurte angelegt haben, sind wir im Gespräch. Ob vom Rheumatologen-Kongress in Hamburg, seiner späten großen Liebe Teresa oder den großartigen Golf-Plätzen auf Madeira – António Vilar erzählt lebhaft über Lärm und Verständigungsschwierigkeiten hinweg. Und er ist auch gern bereit, das zwei Tage später in seiner Privatpraxis fortzuführen. An einem Montagvormittag empfängt er uns in seinem Sprechzimmer im zweiten Stock, während draußen der Morgenregen verdampft und langsam die Sonne durch die arztweißen Lamellenvorhänge dringt. Typisches Lissaboner Märzwetter, meint Vilar, und bittet uns, auf den zwei Stühlen für die Patienten Platz zu nehmen. Das Zimmer ist einfach eingerichtet, die Behandlungsliege schmal, der Drucker scheint das modernste Gerät zu sein. Vilar sitzt, ganz Arzt, auf der anderen Seite des Schreibtisches: Hier wirkt er mit seiner Glatze, den glattrasierten Wangen und dem beige karierten Sakko viel normaler als auf den Glamourfotos im Internet, die ihn mit seiner Frau auf Empfängen der Stadtprominenz zeigen. Während wir reden, kommt die ganze Zeit klassische Musik aus dem kleinen Radio neben den Patientenakten.

 


 

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11.00 Uhr, im Behandlungszimmer, Clínica de Diagnóstico e Checkup Roma

 

„Ich bin pensioniert, arbeite aber trotzdem.

Nicht, weil ich, wie so manch anderer in Portugal, von meiner Pension nicht leben könnte. Nach 36 Jahren Arbeit im öffentlichen Gesundheitswesen und allerlei Nebentätigkeiten, bekomme ich 2300 Euro im Monat. Das ist viel für derzeitige Verhältnisse! Ich finde es aber nicht sonderlich viel – bei den hohen Ämtern die ich hatte. Zumal der Staat das 13. und 14. Monatsgehalt längst gestrichen hat. Der Hauptgrund, warum ich weiterarbeite ist, dass das meinem Kopf gut tut. Wenn ich jetzt aufhören würde, käme bestimmt das frühzeitige Alter. Außerdem kann man auch mit 62 Jahren noch wertvolle Beiträge leisten.
Wenn man jung ist, hat man viel Energie, um Dinge anzupacken, aber man weiß noch nicht viel. Wenn man alt ist, hat man viel Wissen, aber die Energie lässt nach. Es ist wichtig zu schauen, in welcher Lebensphase sich Energie und Wissen besonders gut treffen. Ich glaube, das ist in den 50ern der Fall.
Ich bin mit Leib und Seele Rheumatologe. Die Rheumatologie wurde in Portugal erst recht spät als eigener Fachbereich erkannt, aber immer noch früher als in Deutschland. 1948 hat mein ehemaliger Chef das portugiesische Institut für Rheumatologie gegründet. Heute ist es die älteste Einrichtung der Welt, die sich ausschließlich den rheumatischen Krankheiten widmet. Nachdem ich als einer der ersten Ärzte meinen Doktor in dem Bereich gemacht habe, begann ich dort zu arbeiten. Später wurde ich erst ärztlicher Direktor und dann für fast zehn Jahre Präsident. Während meiner Präsidentschaft wurde das Gebäude saniert und wir mussten mit Finanzierungsproblemen klarkommen. Ich habe viele meiner Freunde eingespannt, um das Institut zukunftsfähig zu machen. Als ich das Amt abgegeben habe, war das auch eine Erleichterung. Es ist eine Bürde, für viele Leute verantwortlich zu sein. Und Administration und Management sind wirklich kompliziert in Portugal. Ich habe danach den Patientenverband Andar gegründet. Er gibt Rheuma-Betroffenen eine Stimme und hat heute viel Einfluss. Außerdem haben wir einen Tag der Rheumatologie ins Leben rufen, am 5. April. Früher kannten die meisten Menschen die Krankheit gar nicht, jetzt kann jeder zweite in Portugal etwas damit anfangen.
Ich bin zufrieden, weil ich dadurch das Gefühl habe, etwas hinterlassen zu können. Ich sage immer: Wenn jeder von uns einen Baum pflanzen würde, gäbe es keine Wüsten. Das sollten wir machen! Aber viel zu wenige machen es. Die ehrenamtliche Arbeit, dieses Gefühl, etwas für andere zu tun, das ist ein sehr starker Antrieb für mich. Vorher habe ich viel für mich selbst gearbeitet.
Wenn wir jung sind, denken wir immer, das nächste Ziel sei jetzt wahnsinnig wichtig und entscheidend: der Abschluss in Medizin, die Promotion, die weitere Spezialisierung – ich wollte überall immer besonders gut sein. Und es kam immer das nächste. Dadurch habe ich mein Privatleben vernachlässigt, meine erste Ehe ist daran gescheitert. Wenn ich mich noch mal entscheiden könnte, würde ich es anders machen. Dann würde es halt länger dauern, bis ich dieselben Ziele erreicht hätte.“

 



 

„Wenn ich die jungen Leute heute sehe,

mache ich mir große Sorgen, mehr als ein Drittel ist arbeitslos. Das ist ausgerechnet die Generation, der immer gesagt wurde: Bildung, Bildung, Bildung, dann wird alles gut! Die Jungen sind frustriert, weil sie trotz Universitätsabschluss keinen Job bekommen. Sie haben das Gefühl, wir Alten haben falsche Entscheidungen getroffen und schlecht investiert und nun trifft es sie. Und die Alten sind frustriert, weil ihre Rente gekürzt wird. Die Krise bringt die Generationen gegeneinander auf. Das kann eine Gesellschaft spalten. Die Krise hat ja auch schon die EU geteilt. Besonders die Deutschen sind schnell darin zu sagen: Die Griechen arbeiten nicht. Doch selbst wenn das stimmt, liegt es wohl auch daran, dass Deutschland Geld geschickt hat, damit sie nicht arbeiten. Diese verfehlte Politik der Agrarsubventionen! Uns in Portugal wurde gesagt, in Europa gebe es zu viel Milch, also haben wir aufgehört, sie zu produzieren und importieren sie. Uns wurde gesagt, wir sollten Schiffe abbauen, dabei grenzt unser Land zu zwei Dritteln am Meer. Wir haben die Landwirtschaft zurückgefahren, obwohl wir früher Selbstversorger waren. Und wir haben die Textilwirtschaft gestoppt, weil uns gesagt wurde, die Chinesen seien billiger. Die reichen Länder haben den Chinesen dann ihre Maschinen verkauft. Und nun sind sie es, die uns für diese Krise verantwortlich machen. Dabei war es nie die portugiesische Politik, die über die Zukunft entschieden hat, sondern die EU, die uns diktiert hat, was wir tun sollten und uns mit Geldern überschwemmt hat.

Ich würde mir wünschen, dass die Entscheider auf europäischer Ebene anerkennen, dass das auch ein Grund für die Schwierigkeiten hier ist. Es mangelt an Solidarität und an Verständnis, gerade von Ländern wie Deutschland. Dort geht man einfach weiter und macht mit anderen Ländern Geschäfte. Das ist nicht der Geist, der in dieser Union stecken sollte – es macht mich pessimistisch.
Ich sehe, was um mich herum passiert, auch wenn es mir verhältnismäßig gut geht. Dass ich diese Privatpraxis haben kann, ist ein großes Glück. Höchstens zehn Prozent der portugiesischen Ärzte haben nur Privatpatienten. Bei mir kostet ein Besuch in der Sprechstunde im Schnitt 100 Euro. Die meisten meiner Patienten zahlen das privat – entweder, weil sie reich sind, oder, weil sie schlechte Erfahrungen bei anderen Ärzten gemacht haben und meine Meinung unbedingt wollen. Aber langsam kommt die Krise auch hier an. Früher mussten die Leute drei Wochen auf einen Termin bei mir warten, inzwischen kann ich ihnen schon in der Folgewoche einen geben.
Diese gesellschaftlichen Veränderungen sind leichter zu bewältigen, wenn man nicht allein ist. Als ich meine Frau Teresa vor vier Jahren traf, kam es mir vor, als wäre auf einmal alles möglich. Ich war in einem Extremzustand, Leidenschaft genannt. Wenn man leidenschaftlich ist, ist alles verrückt und schön. Man muss nichts mehr essen, nichts mehr trinken, möchte nur noch mit der anderen Person zusammen sein.
Ich versuche, mein privates Leben mit dieser bezaubernden Frau mehr zu genießen als früher. Neben allem anderen kocht Teresa auch noch fantastisch. Und sie spielt Golf! Als ich sie auf dem Flug nach Madeira zum ersten Mal gesehen habe, sah sie aus wie ein Star. Einmal waren wir für einen Monat getrennt. Irgendwann bin ich über die Mauer ihres Grundstücks geklettert, ich wollte sie zurückgewinnen. Um mich nicht am Stacheldraht zu verletzten, bin ich über die schmale Katzenleiter gekraxelt. Dann stand ich vor ihrer Tür und habe miaut. Teresa hat sie geöffnet, sie dachte, ich wäre eine ihrer acht Katzen. Wir haben uns wieder versöhnt, sind zusammengezogen, haben geheiratet. Manchmal nennt sie mich ihre Hauptkatze.“

 

12.00 Uhr, im Behandlungszimmer, Clínica de Diagnóstico e Checkup Roma

12.00 Uhr, im Behandlungszimmer, Clínica de Diagnóstico e Checkup Roma

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