Geboren am 2. Juli 1976; Straßenpunk
In der Andrassy ut im Zentrum von Budapest läuft ein Straßenpärchen vorbei an Läden von Louis Vuitton, Dolce & Gabbana, Burberry und schnorrt. Zwischendurch bleiben sie stehen und knutschen. Er wirkt älter als er ist, weil er deutlich zu wenig Kilos auf den Rippen hat, sie ist auf kindliche Weise dünn. Als sie uns um Geld bitten, fragen wir sie, ob sie sich am nächsten Tag mit uns treffen, wir würden ihnen auch etwas zu essen kaufen. „Ja, klar, 14 Uhr, hier vorm Supermarkt“, sagt Laszlo Jozsef Balkol. Wir glauben nicht, dass sie kommen, doch tags darauf sind sie um Punkt 14 Uhr da. Er hat seinen Irokesenschnitt gestylt und wünscht sich, dass wir irgendwas im Supermarkt einkaufen, egal was, er wolle sich überraschen lassen. Sie ist genauso schweigsam wie am Vortag, stopft den viel zu süßen Kuchen in sich rein und raucht. Er redet viel und etwas wirr, es ist schwer zu entscheiden, was davon wahr ist und was er erzählt, um einen guten Eindruck zu machen. Denn darum ist er sehr bemüht, so höflich, wie er jedes Mal fragt, bevor er sich noch ein Stück der ungarischen Salami nimmt.
„Leben ist schwierig.
Aber es bleibt einem ja nichts anderes übrig als zu leben. Ich bin den ganzen Tag auf der Straße und schnorre. Doch die Ungarn geben kaum Geld. Entweder sie haben selbst nix oder sie denken nur an ihr Konto. Dieses verrückte Land! Wenn Du nach einer Zigarette fragst, sagen sie immer: Ich rauche nicht. Dass Du eben selbst gesehen hast, wie sie eine Packung gekauft haben – scheißegal.
Manchmal wünsche ich mir, dass sie auch alles verlieren und auf der Straße landen: ohne Geld, ohne Zigaretten, ohne Handy, ohne Hilfe. Mir hilft niemand, nicht die Leute auf den Straßen, nicht der Staat, niemand.
Diese Schnorrerei ist irre anstrengend. In den letzten fünf Monaten habe ich zehn Kilo abgenommen. Mein Magen ist kaputt. Ich penne immer bei irgendwelchen Freunden auf dem Boden, alle paar Tage bei jemand anderem, auf der Straße ist es mir zu gefährlich. Mein ganzes Leben ist so chaotisch, ich kann mich nie ausruhen. Und in ein Obdachlosenheim kann ich auch nicht. Denn da dürfte ich nicht zusammen mit meiner Freundin hin. Ich hab Erika vor ein paar Monaten auf der Straße kennengelernt. Sie ist erst 15. Ich hab zu ihr gesagt: Hey, ich hab eine Tochter in Österreich, die auch 15 ist. Ich bin schon eine alte Sau! Aber ihr war das egal. Passt, hat sie gesagt. Jetzt wollen wir zusammen nach Wien. Da ist alles besser. Ich hab da schon mal gearbeitet als Maler, schwarz. Das war gutes Geld.
Wozu soll ich in Budapest arbeiten, wenn ich nur 300 Euro im Monat verdiene? Das ist doch ein Witz! Wie soll man denn davon ein Zimmer, Essen und alles andere bezahlen? Und am Samstag will man vielleicht auch mal Party machen. Das ist eine Katastrophe. In Wien verdient man mindestens 1250 Euro im Monat. Wenn ich es dahin schaffe, will ich nie wieder zurück nach Ungarn kommen, nicht mal als Tourist. Dieses Land geht den Bach runter. Ich will eine hübsche Frau aus Österreich heiraten und die doppelte Staatsbürgerschaft bekommen.
Ich habe schon eine Chance bei der Mutter meiner Tochter. Mal sehen, ob das klappt und was ich dann mit Erika mache. Ich will, dass sie auch ein besseres Leben hat. Sie ist von ihren Eltern geschlagen worden und weggelaufen, das war ein bisschen wie bei mir früher. Mein Vater hat mich auch geprügelt. Mit 16 bin ich dann ausgezogen und hab die Schule abgebrochen, damit ich arbeiten und meine Wohnung bezahlen konnte. Eine Ausbildung hab ich nie gemacht. Jetzt steh ich so ziemlich ohne alles da. Mit meinem Vater hab ich seit Ewigkeiten keinen Kontakt mehr gehabt und ich will ihm auch keine Probleme machen, schwieriger Typ. Meine Mutter ist tot und Geschwister hab ich keine.
Wir müssen jetzt einfach diese verdammten 38 Euro für zwei Bustickets nach Wien zusammenkriegen. Wenn man gerade mal vier bis fünf Euro am Tag schnorrt, ist es sauschwer, was zu sparen. Ich hab schon zweimal versucht, mit dem Zug schwarz zu fahren, wurde aber erwischt und bin rausgeflogen. Dann hab ich versucht zu trampen, fünf, sechs Stunden gewartet. Keine Chance.
Eigentlich ist Wien ja gar nicht weit weg, aber wenn man kein Geld hat, ist es sehr weit.
Was soll ich machen in diesem Land ohne Geld? Nichts! Stehlen will ich nicht. Es geht nur schnorren, hierbleiben und warten. Das ist die einzige Möglichkeit für mich. Ich will keine Scheiße bauen. Ich kenne jemanden, der wegen zwei geklauten Brötchen zwei Tage im Gefängnis saß.
Die Polizei hier ist echt brutal. Einmal haben sie mich beim Schnorren erwischt und gesagt: Das ist hier verboten. Und ich so: Alter, was soll ich machen? Ich will was zu essen kaufen! Dann ist einer der Polizisten ausgerastet, weil ich ihn Alter genannt hab – und hat mir mit dem Schlagstock die Nase gebrochen. Hier, deswegen steht auf meinen Fingern an der rechten Hand auch: A, C, A, B. Das heißt: All cops are bastards. Ich hab mir das selbst gestochen. Tat nicht weh, ich brauchte noch nicht mal Wodka oder so. Kein Problem. Die Initialen auf der anderen Hand heißen übersetzt: Zigeunerische Kaputtmaschine, das ist eine Punkband aus Ungarn. Ich bin halt Punker, ich find auch die Ohrbooten und Rammstein total geil.
Auf meinem Rücken steht Freiheit 76. Kein Zufall, dass das auf Deutsch ist. Ich weiß, dass ich es irgendwann schaffe, nach Österreich zu gehen, dann zwei Tage chillen, duschen, schlafen und Vollgas geben und arbeiten. Das ist mein Traum.
Von meinem Land bin ich so enttäuscht. Pfui, ich hasse es! Es ist schlimm, wenn man das seinem eigenen Land gegenüber empfindet, zu dem man ja eigentlich gehört. Früher war ich stolz ungarisch zu sein. Jetzt bin ich fertig damit.“